Zeitungsbericht "Der Standard" vom 5. März 2008

 

Waldkindergarten: Wie man Kinder in die Welt begleitet


In der Kinderstube Höchst werden seit 1984 davor unbekannte pädagogische Ideen verwirklicht. Die Pädagogin Christl Hackspiel hat dabei dem Rollenbild Kindererzieherin neue Seiten abgewonnen.

Eine Sandkiste in eine Vulkanlandschaft umzuwandeln ist ganz einfach. Man braucht dazu nur Flaschen, Essig und Backpulver. Flaschen in den Sand stecken, einen Kegel anhäufen, Essig einfüllen, Backpulver dazu. "Und ein bisschen rote oder gelbe Lebensmittelfarbe, damit der Vulkan dann feuriges Magma spuckt", erklärt Christl Hackspiel den ahnungslosen Zeitungsmenschen. Um die Vulkane sitzen und liegen die Höchster Waldkinder, die Hände voller Matsch, die roten Wangen weiß vom Backpulver. Rot-orange blubbert es aus dem feuchten Sand. Sie könnten stundenlang weitermachen. Aber: Experiment gelungen, Backpulver verbraucht.

Die vier- und fünfjährigen Mädchen und Buben rappeln sich hoch, räumen mit ihren Betreuerinnen den Sandplatz auf. Rucksäcke umgehängt, auf geht's in den nahen Auwald. Dort, wo der Alte Rhein die Grenze zur Schweiz bildet, ist seit sieben Jahren der Waldkindergarten daheim.

Die ganz Flinken laufen voraus, die Forscher haben entlang des Weges noch viel zu entdecken, die Neugierigen fragen die Gäste aus, die Anhänglichen gehen mit "der Christl". "Ich hatte eigentlich immer kleine Kinder um mich herum", erzählt Christl Hackspiel, "schon als Mädchen, ich war die Älteste von vier Geschwistern." Die Entscheidung, Kindergärtnerin zu werden war für sie eine logische, für ihre Eltern nicht. Sie sollte Lehrerin werden. "Aber ich wollte keine Kinder bewerten." So wurde sie mit 17 Helferin im Gemeindekindergarten, machte berufsbegleitend die "Bildungsanstalt für Kindergärtnerinnen und Horterzieherinnen" in Innsbruck.

Frau Hackspiel ist eine der wenigen, die ihrem Beruf über die Jahre treu geblieben sind. "Die meisten steigen mit der Geburt der eigenen Kinder aus oder pausieren lange." Die Geburt von Sarah und Nora, sie sind heute Ärztin und Psychologin, war für Christl Hackspiel nicht Grund zum Aufhören, sondern für einen Neubeginn. Wie Christl und ihr Mann Christoph Hackspiel, ein Psychologe, suchten auch andere junge Eltern im Dorf nach einer neuen Form der Kinderbetreuung. "Wir haben uns sehr intensiv damit auseinandergesetzt, wie man Kinder in die Welt begleitet, waren begeistert von reformpädagogischen Ideen. Aber hier im ländlichen Umfeld gab es natürlich kein entsprechendes Angebot." Man schrieb das Jahr 1984, vieles war in Vorarlberg im Umbruch. Die Ökologiebewegung formierte sich, Frauengruppen wurden laut. "Wir haben ganz einfach beschlossen, selbst aktiv zu werden, und die Kinderstube gegründet." Zehn Kinder waren es am Anfang, heute sind es 49.

  

Der Reiz des Gestaltens


Jahrelang musste das Projekt ohne öffentliche Mittel auskommen, heute zahlen Land und Gemeinde für die private Kinderbetreuungseinrichtung mit. Vor sieben Jahren bekam die Kinderstube eine Außenstelle, den Waldkindergarten. "Ohne diese Projektarbeit, die ständige Weiterentwicklung und die intensive Elternarbeit wäre ich sicher nicht so lange im Beruf geblieben", sinniert die Kinderstuben-Leiterin: "In einer Institution hätte ich es nicht ausgehalten."

Wesentlich für die Kinderstuben-Gruppe war von Anfang an "bedarfsorientierte Kinderbetreuung", ein Begriff, den mittlerweile auch die Bundesregierung kennt. Die Ansprüche der Elterngruppe in den 80er-Jahren könnten auch von heute sein: "Die Öffnungszeiten im Gemeindekindergarten entsprachen nicht unseren Bedürfnissen, außerdem wollten wir unsere Kinder nicht so einfach aus der Hand

geben, wir wollten mitgestalten." Elternpartizipation ist heute noch eine wesentliche Säule der Kinderstube. Sie reicht vom Mitdenken bis zur Mitarbeit im Trägerverein oder bei Veranstaltungen. "Was wir nicht mehr machen, sind stundenlange pädagogische Grundsatzdiskussionen", schmunzelt Frau Hackspiel. Man gehe haushalterisch mit der Elternfreizeit um.

Zeitnot nennt die Frau, die so schnell nichts aus der Ruhe bringen kann, als wesentliche Herausforderung der Gegenwart. "Die Welt wurde um einiges schneller. Viele Eltern stehen stark unter Druck, das wirkt sich auf die Kinder aus." Kinder würden in einen "starren Rhythmus gepresst", hätten schon von klein auf terminliche Verpflichtungen. "Da wirkt dann unser Waldkindergarten wie eine Zeitinsel. Die Kinder kommen aus der schnellen Welt und werden hier langsam." In stundenlanger Beschäftigung mit den Materialien, die der Wald bietet, müsse sich "der kleine Mensch hier alles selbst erfinden". Die Besinnung auf Elementares sei eine enorme Herausforderung, sagt die erfahrene Pädagogin und findet: "Es ist unglaublich spannend und toll, dass die Kinder das immer noch können."

Längst haben die neuen Medien auch die Kleinkinderzimmer erreicht. Wenn die Waldkinder in Rollen schlüpfen, dann sind sie nicht nur Tiere des Waldes, sondern auch virtuelle Helden. Dass die Welt der Computergames nicht die ihre ist, verhehlt Christl Hackspiel nicht: "Da bin ich ziemlich ungeschickt. Mein kleiner Neffe hat mir einiges gezeigt, der hat da viel Geduld gebraucht." Games seien dann ein Grund zur pädagogisch Intervention, wenn sie spüre, dass ein Kind belastet ist. "Dann suche ich das Gespräch mit den Eltern."

Die pädagogische Arbeit bleibt für Christl Hackspiel weiter zentrales Anliegen. "Aber in den nächsten Jahren werde ich nicht mehr jeden Tag im Wald sein." Mehr Zeit für Konzeption und Organisation wolle sie sich zugestehen. Denn die Kinderstube wird neue Betreuungsformen schaffen - den Bedürfnissen der jungen Eltern entsprechend. Was Christl Hackspiel aber nicht will, ist ein "institutionalisiertes Angebot, das man einfach konsumiert". Das Engagement der Eltern bleibt daher weiter wichtig.

(Jutta Berger, DER STANDARD - Printausgabe, 5. März 2008)